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Jameda Patientenbewertungen

Ein Blick zurück und zwei nach vorn

Zwischen den Jahren 2022 und 2023

Wie, bitte schön, kann ein Jahresrückblick 2022 ausfallen, der realitätsadäquat, aber nicht resignativ sowie illusionsarm, aber nicht pessimistisch sein soll? Woran lohnt es zu erinnern? Welche Entwicklungen weckten Hoffnungen, welche Fakten stimmten uns nachdenklich, und welche Nachrichten signalisierten uns Gefahren, Krisen oder Sorgen?
So können wir beim Blick zurück zu Recht auf diverse Entwicklungen unseres Klinikums verweisen und uns – als großartige und wesentliche Ergebnisse des Jahres 2022 – über unseren gerade eröffneten Erweiterungsbau ebenso wie über die entspanntere wirtschaftliche Situation unseres Unternehmens freuen. Wir tun es mit dem gehörigen Stolz und zugleich mit dem Wissen, dass mit diesen Erfolgen auch neue Aufgaben und Herausforderungen auf uns zukommen.
Doch bei aller Zufriedenheit im Kleinen – wozu auch zu rechnen ist, dass wir inzwischen über sechshundert Patienten vollstationär bei uns begrüßen konnten; dass wir in diesem Jahr viele neue und überaus engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für uns und unsere Idee von Medizin gewinnen konnten; dass wir die Qualität unserer Diagnostik und Therapie sowie vor allem das Niveau unseres Milieus hochhalten konnten – bei aller Zufriedenheit über diese Gesichtspunkte unserer Arbeit also gab es im Hintergrund auch Sorgen und Bangigkeit über das in 2022 Große und Bedrohliche von Politik und Gesellschaft, von Krieg und dessen wirtschaftlichen Folgen sowie von dessen unermesslichem Leid, das er hervorruft. Über 100.000 Tote und noch mehr Verletzte soll der Blutzoll dieses Krieges gegen die Ukraine bereits betragen; Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht; der materielle Schaden ist kaum zu beziffern. Es gehört mit zu den Aufgaben der Personalen Medizin, diese gesellschaftlichen, politischen, sozialen, kulturellen und epochalen Einflüsse, Krisen und Veränderungen so gut es geht zu erfassen und einzuordnen:

"’s ist Krieg! ’s ist Krieg! Oh Gottes Engel wehre / Und rede Du darein! / ’s ist leider Krieg – und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein! … / Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute, / So glücklich vor dem Krieg, / Nun alle elend, alle arme Leute, / Wehklagten über mich? ... / Was hülf’ mir Kron’ und Land und Gold und Ehre? / Die könnten mich nicht freun! / ’s ist leider Krieg – und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein!"

Claudius, M.: Kriegslied (1782), in: ‘s ist Krieg! – Geschichten von Honoré de Balzac bis Heinrich Böll, herausgegeben von Daniel Kehl, Zürich 1993, S. 5

Über 240 Jahre ist es her, dass Matthias Claudius (1740-1815), der bedeutende Lyriker, Journalist und Herausgeber eines oft und gern gelesenen Periodikums, diese Zeilen als bitteres Klagelied gegen den Krieg verfasste. Darin finden sich keine beruhigenden Gedanken wie etwa in seinem bekanntesten Gedicht "Der Mond ist aufgegangen", das vielen von uns wahrscheinlich als Volkslied präsent ist. So sehr Letzteres uns in den Schlaf wiegt, so sehr rüttelt uns das Kriegs-Gedicht auf zu hellwacher Kritik.

Claudius hat es wie manch andere, die über das Phänomen Krieg nachgedacht haben, tunlichst vermieden, eine schlichte Einteilung in die Guten, die Bösen, die Opfer und die Täter vorzunehmen und sich aus Bequemlichkeit auf die Seite der Guten zu schlagen. In seinem Gedicht nahm er einzig und allein Partei für die Humanität, in deren Namen er dem Krieg den Krieg erklärte. Auch wir tun gut daran, bei aller nachvollziehbaren Empörung über diesen oder jenen Feldherrn, Politiker oder Diplomaten sowie über das himmelschreiende Elend, das ein einziger Gefallener zu bedeuten hat, immer wieder zu versuchen, den Krieg als schon Jahrtausende währenden Irrwitz der Menschheitsgeschichte zu begreifen.

Wollen wir verhindern, zur Gruppe der naiven Gutmenschen und romantischen Utopisten gerechnet zu werden, müssen wir uns mit dem Wurzelgeflecht des Krieges, mit einer komplexen, nur schwer zu durchdringenden psychologischen, sozialen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen, historischen Wirklichkeit konfrontieren. Vor dem Hintergrund einer illusionsfreien, nüchternen Diagnose hinsichtlich der Ursachen und Ausgestaltungen kriegerischer Haltungen und Handlungen lassen sich dann eventuell irgendwann effektive Schritte in eine friedfertigere Zukunft gehen.

Als Ursachen kriegerischer Gewalt sind unter anderem zu benennen: die Idee von Diktatoren, Heerführern, Herrschern, als Heroen und „Männer“ geschichtliche Missionen realisieren zu müssen; für die Mehrheit als anonym erlebte Mächte des Geschichtsverlaufs (etwa wirtschaftliche Aspekte; Rohstoff-Interessen, politische Einfluss-Sphären; geostrategische Pläne); systematische militärisch-drillartige Sozialisation von Kindern, Jugendlichen, Soldaten (Reduktion und Elimination von Empathie und Solidaritätsempfindungen); Klassenherrschaft (meist befehligen die Vertreter der Upperclass Kriege, „Proleten“ haben dieselben auszubaden); Krieg- und Gewalt-induzierende Ideologien: Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus, Imperialismus, Antisemitismus; Zensur, Propaganda und demagogische Massen-Medien (Verlust des Wahrheits-Ethos); Verrat der Intellektuellen (Mangel an autonomer Urteilskraft geistiger Eliten); massiver Aberglaube und Ablehnung von Wissenschaft, Philosophie und Kunst; militärisch-technisch-industrielle Interessen (Waffenlobby und Arbeitsplatzbeschaffung); Traditions-verhaftet-Sein (z.B. Krieg gab es seit eh und wird es auch immer geben); Reduktion und Beschränkung von Menschenrechten (Selbstbestimmungsrecht der Person; Freiheit von Religion, Gewissen und Gedanken; Presse-Freiheit; Freiheit der Kultur; Meinungsfreiheit; Versammlungsfreiheit; Recht auf Freizügigkeit); Einschränkung von Demokratie (Strukturen und Prozesse); kollektive Vorurteile; Entwicklung und Tradition von Misstrauen und Paranoia; Frauenfeindlichkeit und Patriarchat; mangelnde Bildung und Aufklärung der Massen (Verführbarkeit, eingeschränktes Urteilsvermögen); Diskriminierungen in Bezug auf z.B. Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Abstammung; innenpolitische Krisen und Konflikte (Krieg als Kompensation).

Ausgehend von diesen stichpunktartig und summarisch aufgeführten etwaigen Ursachen und Dynamiken kriegerisch-gewalttätiger Haltungen und Ereignisse, die sich oft gegenseitig beeinflussen und bedingen, ergeben sich für uns als Einzelne wie auch als Mitglieder einer Sozietät Möglichkeiten, aktuell wie auch präventiv für einen positiven Frieden aktiv zu werden. Nach Immanuel Kant muss solch ein Zustand immer wieder neu gestiftet werden – er ist kein Hab und Gut, das wir getrost nach Hause tragen könnten.

  1. Als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Klinik für Personale Medizin sind wir prädestiniert, psychosoziale Aspekte von kriegerischer Bedrohung wahrzunehmen und auszudrücken. Emotionen wie Angst, Unsicherheit, Ohnmacht, aber auch Schuld und Scham (was haben wir als Gesellschaft, als Staat „falsch“ gemacht?) dürfen benannt und eingeordnet werden, damit aus ihnen nicht irgendwann ein kompensatorisches Agieren (Aggression, Rückzug, Misstrauen, Gleichgültigkeit, Resignation etc.) entspringt.

  2. So sehr es jedem von uns ohne depressive Verzweiflungsattacken möglich ist, dürfen wir uns mit aktuellen Entwicklungen auseinandersetzen. Es sind eklige und nihilistische und zutiefst destruktive Nachrichten – aber zugleich ist es unsere Welt und sind es unsere Mitmenschen, die da zerstört und zerstückelt werden. Wenn wir Zeugen dieses Grauens sind und bleiben, halten wir jenes Wahrheits-Ethos etwas aufrecht, das anderswo längst schon mit Füßen getreten und mit Neusprech (George Orwell) ersetzt wird.

  3. Weder bei den emotionalen noch bei den kognitiv-intellektuellen Eindrücken sollten wir stehenbleiben. Was uns auszeichnet ist die Fähigkeit und Möglichkeit, unsere Eindrücke auszudrücken und in größere Zusammenhänge einzustellen. Der Medizinsoziologe Aron Antonovsky bezeichnete diese Fähigkeit als den Sense of coherence (Zusammenhangs-Sinn); dieser sei beispielsweise bei Erkrankungen ein günstiger Faktor, rascher wieder zu gesunden oder mit chronischen Krankheiten besser zurande zu kommen. Angesichts des Jahres 2022 wünsche ich uns einen umfänglichen, sehr belastbaren Sense of coherence.

  4. Eine Dimension des einordnenden Zusammenhangs betrifft die Anthropologie, Psychologie und Soziologie des Krieges. Sophokles hatte Recht, als er dichtete: „Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts / ist ungeheurer als der Mensch... / In der Kunst der Erfindung jenseits aller / Erwartungen schöpferisch, / schreitet er bald zum Schlechten, bald zum Guten.“ Sehr viel Schlechteres als den Krieg können wir uns nicht vorstellen, und dieselbe Gattung Mensch ist jedoch in der Lage, Dichtwerke wie dasjenige von Sophokles hervorzubringen. Von Natur (aber was ist seine Natur?) ist der Mensch weder gut noch schlecht, und eine Hauptfrage jeglicher Sozialisation und Enkulturation muss daher sein, wie der Einzelne in die Lage versetzt wird, sein Dasein mit anderen zusammen als Gesellschaft friedlich und nicht gewalttätig zu führen.

  5. Mit dieser Frage assoziiert sind die Themen von Erziehung und Bildung – zwei Themen, die als grundwesentlich für eine erfolgreiche Friedens-Prävention gelten. Je umfangreicher und differenzierter das emotionale, soziale sowie intellektuell-kulturelle Bildungsniveau und Wertempfinden und damit auch das personale Niveau von Individuen ausgeprägt ist, umso größer sind die Chancen, dass sich die Betreffenden in ihrem Umfeld für freiheitliche, demokratische und humanistische Verhältnisse engagieren; und umso prägnanter steht bei ihnen ein hohes Maß an Empathie, Solidarität, Vernunft, gegenseitiger Hilfestellung und Common sense zu erwarten.

  1. Mit der Frage nach der Daseinsgestaltung eng verknüpft sind aber auch die Phänomene von Hunger, Armut, Obdachlosigkeit, Flucht, Exil und Heimatlosigkeit. Krieg ruft alle diese Phänomene hervor; zugleich tragen diese Phänomene nicht selten dazu bei, Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene (im Nahen und Mittleren Osten, in Zentral-Afrika) für den nächsten Krieg zu präparieren und zu fanatisieren. Menschen, die unter solch massiv ungünstigen ökonomischen, gesellschaftlichen, sozialen Verhältnissen leben, bilden die potenziellen Söldnerheere von morgen.

  2. Jeder von uns kann in seinem privaten, vor allem aber auch in seinem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld darauf hinwirken, die verschiedenen Gedanken und Konzepte etwa der Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder auch die rechtlichen Möglichkeiten des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag bekannter werden zu lassen. Mit diesen juristischen Grundlagentexten, die unter anderem auf Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795) zurückgehen, ist es heute schon möglich, Kriege zu ächten und de jure zu verunmöglichen – auch wenn sie de facto damit (noch) nicht verhindert werden.

  3. Neben Immanuel Kant und Matthias Claudius gibt es eine Reihe von Autorinnen und Autoren, die seit Jahrhunderten über die Konturen einer friedlicheren Welt geschrieben haben; ich erwähne lediglich einige Schriftstellerinnen: Seit Bertha von Suttners Die Waffen nieder! (1889) wird die Anti-Kriegs-Debatte zunehmend auch von Frauen geführt. Dazu zählen Virginia Woolf mit ihren Essays Drei Guineen (1938) sowie Gedanken über den Frieden während eines Luftangriffs (1940); Astrid Lindgren (1907-2002) mit ihrer Rede für den an sie verliehenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1978); Christa Wolf (1929-2011) mit ihrer Erzählung Kassandra (1983); oder auch Barbara Tuchman (1912-1989) mit ihren Büchern August 1914 (1962) sowie Die Torheit der Regierenden – Von Troja bis Vietnam (1984), worin sie anhand ausgewählter Beispiele zeigte, inwiefern die beschränkte Fassungskraft von Herrschern zu desaströsen politischen Ergebnissen bis hin zu Kriegen und Zerstörungen riesigen Ausmaßes beigetragen hat.

  4. Dummheit, Verrücktheit, Aberwitz, Torheit kommt bei vielen Menschen vor und beeinträchtigt mehr oder minder deren persönliches Leben. Dieselben Attribute bei Herrschern induzieren womöglich gänzlich andere Effekte: Eventuell verlieren aufgrund der Beschränktheit von Regierenden Abertausende ihr Leben, und Überlebende der wahnwitzigen Größenideen von Herrschern dürfen sich während oder nach verlustreichen Kriegen noch anhören, dass sie (die Herrscher) die von ihnen angestoßene Katastrophe „so nicht gewollt“ haben (so lautete jedenfalls der Kommentar des österreichischen Kaisers Franz Joseph zum Verlauf des Ersten Weltkriegs). Die Prävention gegen Kriege beginnt (so lässt sich Tuchmans Buch lesen) mit der Wahl oder Abwahl von Herrschern und Regierungen – so denn die Chance zu einer Wahl besteht, die jedoch nur dann verantwortungsvoll beim Schopfe gepackt werden kann, wenn die Wähler über ausreichend autonome und politische Urteilskraft verfügen.

  5. Wenn Möglichkeiten der Verhinderung und Beendigung von Krieg erwogen werden, kommt einem Jean Paul in den Sinn, der Anfang des 19. Jahrhunderts eine Kriegserklärung gegen den Krieg verfasst und diese in seiner Text-Sammlung Dämmerungen für Deutschland (1809) publiziert hat. Darin ventilierte er den Gedanken, dass nicht Söldner und ganze Armeen, sondern lediglich jene zwei oder drei Herrscher, die gegeneinander Krieg zu führen beabsichtigen, persönlich miteinander kämpfen sollten – dies würde den Blutzoll enorm verringern und bei den Regierenden deren Lust und Laune für kriegerische Gewaltanwendung rasch und merklich dämpfen:

Das Unglück der Erde war bisher, dass zwei den Krieg beschlossen und Millionen ihn ausführten und ausstanden, indes es besser, wenn auch nicht gut gewesen wäre, dass Millionen beschlossen hätten, und zwei gestritten.

  1. Womöglich führt eine solche Regelung auch dazu, das Helden-Ideal, das in den Kriegen seit der Antike bis in unsere Gegenwart hinein immer wieder aufs Neue besungen oder hochgehalten wird, grundsätzlich in Frage zu stellen. Heldenhaft ist es keineswegs, auf dem Feld der angeblichen Ehre für das Vaterland oder für andere Schein-Werte zu sterben – es ist vielmehr ein zutiefst beweinenswertes Betrogen- und Hingemetzelt-Werden in der Regel für ein Nichts, eine Chimäre, einen Wahninhalt.
    Heldenhaft ist es jedoch, jene Werte (gewaltfrei) zu verteidigen und über die Zeiten von Krisen, Kriegen und Revolten hinwegzuretten, die wir auch im Frieden als hochstehend und haltgebend beurteilen: Mitmenschlichkeit; Common sense; Suche nach Wahrheit und Sinn; Liberalität; Vorurteilsarmut und Toleranz; Würde; Personalität; Gerechtigkeit; Solidarität; Diversität; Autonomie; Barmherzigkeit; Güte; Vernunft; das eigene und das fremde Leben. Wer je Wert-Träger und Wert-Erkennender geworden ist, hat die Pflicht, diese zu erhalten und weiterzutragen.

  2. Manche Anthropologen sind der Meinung, dass sich die Menschheit seit ihren frühen Zeiten drei grundsätzliche Irrtümer geleistet hat, die bis auf den heutigen Tag nachwirken. Ausgehend von der Erfahrung fundamentaler Unterlegenheit und Ohnmacht der Natur gegenüber hat sie sich die Melodie der Macht angeeignet und auf dreierlei Arten institutionalisiert: als Glaube an Dämonen und mythische Gottheiten (religiöser Aberglaube); als Glaube an die Dominanz des einen über das andere Geschlecht (Patriarchat); als Glaube an die problemlösende Kraft der Gewalt (Krieg). Angenommen, diese These spiegelt etwas Wahres wider, so bedarf es zur Revision der einen Überzeugung (Gewalt als Lösungs-Strategie) womöglich auch revidierender Modifikationen der beiden anderen Irrtümer. Sigmund Freud hatte derlei im Sinn, wenn er von den drei Denk-Hemmungen sprach (religiöse, autoritäre und sexuelle), die sich gegenseitig stützen und bedingen.

  3. Während des spanischen Bürgerkriegs fragte sich Bertolt Brecht, ob er und andere im spanischen Bürgerkrieg mitkämpfen sollen oder müssen. Brecht hat sich damals dagegen entschieden und in einer Geschichte von Herrn Keuner diese seine Entscheidung für sich (und uns) begründet.

„Wer das Wissen trägt, der darf nicht kämpfen; noch die Wahrheit sagen; noch einen Dienst erweisen; noch nicht essen; noch die Ehrungen ausschlagen; noch kenntlich sein. Wer das Wissen trägt, hat von allen Tugenden nur eine: dass er das Wissen trägt", sagte Herr Keuner.

Wenn wir uns fragen, was unsere Aufgabe angesichts von Kriegen ist, können wir ähnlich argumentieren: Wer die Gedanken und Werthorizonte von Personalismus und Humanismus in sich trägt, der darf nicht kämpfen im Sinne von Ich greife jetzt zur Waffe und nehme in Kauf, dass mein eigenes Leben damit sehr schnell sehr endlich wird. Wir haben andere Aufgaben zu erfüllen, die da wären: Vorstellungen über Sinn, Wert und Bedeutung auch über jene Zeiten hinwegzuretten, in denen es scheinbar wertlos geworden ist, mit solchen Ideen hausieren zu gehen.

  1. Was sind schon Ideen, verglichen mit einer Waffe? verglichen mit einem Panzer? verglichen mit einer Rakete? Ideen und Vorstellungen zu Sinn, Wert, Bedeutung sind etwas vom Gefährdetsten und Zerbrechlichsten, das wir kennen. Unsere Aufgabe kann darin bestehen, ihnen so weit Geltung zu verschaffen, dass sie als Ideen, Gedanken und Konzepte weitergetragen werden; und dass sich jeder von uns mit seinem Charakter, seiner Person und Daseinsgestaltung als Modelle versteht, die die verschiedensten Entwürfe von Sinn und Wert tradieren über eine Zeit hinweg, die ziemlich karg und derzeit sogar kriegerisch imponiert.

  2. Die Frage, wie es denn wäre, angesichts von Krieg und daraus resultierender Probleme und Katastrophen ein Mensch zu sein, zu werden und zu bleiben, haben Hannah Arendt (1906-1975), Karl Löwith (1897-1973) oder manch weitere Denker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sinngemäß wie folgt beantwortet: Weil wir in den Wahnwitz (Totalitarismus; Zweiter Weltkrieg; Holocaust) weder direkt noch indirekt eingreifen können und wollen, bleibt nur die schützende Distanz zum Geschehen (für viele von ihnen bedeutete dies Flucht und Exil) sowie eine philosophische Reflexions-Ebene, die den damaligen Ausbruch von Gewalt und Krieg als gleichsam kollektiv-psychotisches Treiben eingeordnet hat. Diese Denker. Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen wollten ihr Menschsein nicht vollständig im großen Strom der Inhumanität untergehen lassen.
    Vor wenigen Wochen besuchte ich das Jüdische Museum in Berlin und war wieder einmal zutiefst erschüttert und beschämt über die Millionen Mitmenschen zermalmende Verrücktheit und Inhumanität unserer Väter und Großväter. Das Museum zeigt, wie es war, kein Mensch mehr zu sein; und es zeigt, wie verflucht dünn der Firnis von Bildung, Humanität und Vernunft seinerzeit war. Das einzige Prophylaktikum, das eventuell helfen kann, diesen dünnen Firnis für die Zukunft zu stärken, besteht allein in der sozialen, emotionalen und intellektuellen Bildung der Einzelnen und der Vielen. Sigmund Freud jedenfalls, ein Skeptiker hohen Ranges, sah darin einen (sehr fragilen!) Weg der Entwicklung:

Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. Am Ende, nach unzähligen oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf.

Ich gebe gerne zu, dass diese Hoffnung Freuds immer wieder desillusioniert und eines Schlechteren belehrt wurde – und doch gibt es zu ihr keine Alternativen. Ein Auftrag unserer Zeitgenossenschaft besteht darin, die Verhältnisse so realistisch und nüchtern zu registrieren und zu beschreiben, wie sie eben sind; und zugleich auf die wenigen Möglichkeiten einer Evolution zum Besseren hin zu verweisen. Ich wünsche uns, dass wir bei aller Skepsis auch im kommenden Jahr an den Ideen von Personalismus und Humanismus, von Bildung und Vernunft orientiert bleiben, und ich begrüße Sie herzlich, Ihr G. Danzer.

Mehr zum Thema Personale Medizin

Jean Paul: Dämmerungen für Deutschland (1809), in Sämtliche Werke, Abteilung I, Band 5, Darmstadt 2000, S. 962
Brecht, B.: Von den Trägern des Wissens – Geschichten vom Herrn Keuner (1930ff.), in: Gesammelte Werke 12, Frankfurt am Main 1967, S. 376
Freud, S.: Die Zukunft einer Illusion (1927), in: GW XIV, Frankfurt am Main 1998, S. 377

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